1. Etappe Berlin – St. Petersburg

Schweren  Herzens bestieg ich am 19.08.2011 um 15:36 Uhr am Berliner Hauptbahnhof den Zug nach St. Petersburg, der drei Minuten später abfahren soll…schweren Herzens?!? Jawohl, die letzten Wochen in der Heimat waren einfach wunderbar, es gab so viele schöne und unvergessliche Momente mit Familie und Freunden, dass mir das Abschied nehmen wahrlich schwer fiel…Ihr werdet mir fehlen!

Doch fahren wir fort mit dem Besteigen des Zuges, allein dies ein erstes kleines Abenteuer, denn anscheinend nutzen vorrangig weiß-/russische Menschen mit viel Gepäck den Zug.

Man stelle sich einen Zug vor, auf deutschem IC-Niveau, kyrillisch beschriftet und aus jedem Waggon hüpft jemand der seinem Äußeren nach aussieht, wie ein Oberst der roten Armee. Ist er aber nicht! Dies sind die Zugbetreuer, von denen es je Waggon einen gibt und da der Zug reservierungspflichtig ist, kontrollieren diese die Zugtickets der Mitreisewilligen. Nach dem er das vierte Ticket betrachtet und die Passagiere durchgewunken hat, fällt dem Betreuer meines Waggons ein, dass er mit seiner Brille viel besser die kleine Schrift auf den Fahrkarten lesen kann und so setzt er sich seine Sehhilfe ins Gesicht, was die Abfertigungsgeschwindigkeit schlagartig und drastisch erhöht.

Er lässt mich nach einem Blick auf den Fahrschein und ein paar warmen herzlichen, mir aber leider unverständlichen russischen Worten in den Waggon und so schlängele ich mich durch den dünnen Gang vorbei an den Abteilen, hin zu meinem Bett – Bett Nr. 45. Beim Betreten des Abteils verzieht sich mein Mund zu einem gequälten Lächeln. Es gibt dort einen Sessel und drei leidlich gepolsterte Pritschen, die übereinander im Abstand von ca. 60 cm angebracht sind. Jetzt erschließt sich mir das Konzept des 3-Personen-Abteils, wobei ich beim Kauf der Fahrkarte irrtümlich davon ausging, dass ein 3-Personen-Abteil einem 4-Personen-Abteil ja überlegen sein müsse, da der gleiche Platz ja durch 3 und nicht durch 4 geteilt werden müsse. Nun ja, nach kurzer Zeit finden sich auch meine beiden Mitbewohner ein. Andreas, 35 und Spätaussiedler aus St. Petersburg, der zum Familienbesuch nach Minsk will und Sascha, 41 aus Vitebsk, der seine deutsche Tante in Havelberg besucht hat und nun auf dem Heimweg ist.

Man stellt sich kurz vor und kurz darauf hat sich bereits ein lebhaftes Gespräch entwickelt, leider ohne mich, da mein rudimentäres Russisch lediglich dafür ausreicht ab und an Fetzen zu verstehen. Zudem scheint der Zug bis dato nicht klimatisiert, was im sommerlichen Berlin und bei Vollbesetzung klimatische Bedingungen ähnlich einer Biosauna schafft. Die Kombination aus beidem verleitet mich dazu auf dem Sessel sitzend und sonnenbeschienen wegzudösen. Dies währt ca. eine Dreiviertelstunde, dann bringt die Kollegin des Schaffners jedem ein nettes Paket, bestehend aus weißer Bettwäsche und einem „kuschelweichen“ gleichfarbigen Frotteehandtuch. Himmlisch…

Meine beiden Freunde haben meine Müdigkeit zur Kenntnis genommen und helfen mir eifrig dabei, mein Bett zu bauen. Somit liege ich kurz nach fünf auf der obersten Pritsche und schlafe zufrieden ein. Der Schlaf hält mit einigen kurzen Unterbrechungen an bis 3:35 Uhr, als unser russischer Offizier durch den Waggon läuft und dabei lauthals „TAKKS-FRRIEEEH“ brüllt. Dadurch erwacht, bin ich gespannt, welche Waren ich denn nun tax-free erwerben darf, doch meine beiden Freunde klären mich auf. Tax-free heißt, dass man Waren, die innerhalb der EU erworben wurden, beim polnischen Zoll abstempeln lassen und sich damit die Mehrwertsteuer erstatten lassen kann. Kommt für mich nicht in Frage und so stelle ich erst mal fest, dass wir uns ja schon an der polnisch-weißrussischen Grenze befinden und ich damit ganz Polen verpasst habe. Ich denke, ich komme damit klar.

Nach einer kurzen Passkontrolle rollt der Zug weiter, auf weißrussisches Territorium und die Kollegen dort nehmen ihren Job mal richtig ernst. Mit kleinen Taschenlämpchen ausgerüstet, besteigt ein Team von ca. 8 Personen den Waggon, zwei sammeln Pässe ein und kontrollieren diese, vier leuchten mit ihren Lämpchen hinter Verkleidungen und in Luken und zwei gehen von Abteil zu Abteil, ohne ersichtlichen Grund. Diese beiden befragen die Fahrgäste und stellen bei Sascha fest, dass dieser fünf Koffer hat. Da müsse man mal nachwiegen, weil ja laut Zollbestimmungen nur 50kg Gepäck erlaubt seien. Nach dem Wiegevorgang und kurzem Kopfrechnen kommt man zu dem Ergebnis, dass die fünf Gepäckstücke 90kg wiegen und das bedeutet 40kg Übergepäck. Kein Problem, für nur 4€ je kg Übergewicht könne er alles mitnehmen. Wer nun mitgerechnet hat und zudem noch weiß, dass der durchschnittliche Monatslohn, lt. Angaben von Andreas und Sascha, in Belarus bei 200-250€ liegt, versteht die Freude, die Sascha beim Erhalt dieser Nachricht durchfuhr. Aber nichts wird in Osteuropa so heiß gegessen, wie es gekocht wird und da wir mit dem Zug samt Zoll nach Brest ins Depot fuhren, um die Spurbreite des Zuges den osteuropäischen Gegebenheiten anzupassen, hatte er genug Zeit, um mit der Zollbeamtin das Problem ausgiebig zu erörtern. Dies wiederum führte dazu, dass ihm gegen Zahlung von nur 55€ und gleichzeitigem Verzicht auf die Quittung der Weitertransport seines Gepäcks gestattet wurde. Das gab den beiden Anlass, mir die russische Lebensphilosophie von Grund auf zu erklären, die genau genommen besagt, alles ist mit Schmiergeld zu bekommen, wenn man denn russisch spricht…

So standen wir noch ein Weilchen im Bahnhof von Brest, bis es schließlich kurz nach 8 Uhr (inklusive der einen Stunde Zeitverschiebung) weiterging in Richtung Minsk. Dort verließ uns Andreas, der besser Deutsch als Sascha spricht, nicht jedoch ohne mehrfach darauf hinzuweisen, dass Sascha mir unbedingt helfen möge, wobei auch immer, was dieser auch mehrfach versprach und so trennten sich unsere Wege nach knapp 20 Stunden schon wieder.

Nun ging es weiter mit Sascha durch die belarussischen Weiten. Nothing special, so far…

Die Städte wirken grauer als zu Hause, trister, die Fabriken sehen so aus, als wäre die Phase, wo man sie als HighTech bezeichnet hätte schon einige Jahrzehnte vorbei, es gibt wesentlich weniger Autos, dafür aber wesentlich mehr (Misch-)Wald und Wiesen – häufig birkig dominiert – und des Öfteren durchzogen von Flüssen und Seen , sowie diese kleinen anmutigen Holzhäuschen, die wie deutsche Gartenlauben anmuten, aber in dieser Region eher den Hauptwohnsitz ganzer Familien darstellen. So gelangen wir schließlich gegen 13 Uhr nach Orscha, wo uns ein mehrstündiger (und grundloser?) Aufenthalt erwartet. Sascha hat beschlossen, nicht die 3,5 Stunden inkl. Wartezeit im Zug zu verbringen, um nach Hause zu gelangen, sondern lässt sich abholen, da die Strecke mit dem Auto nur eine Stunde dauert. Eine weise Entscheidung, wie ich finde. Vorher lässt er es sich jedoch nicht nehmen, sein gegebenes Hilfeversprechen in die Tat umzusetzen und stattet mich mit 100.000 BelaRubeln im Tausch gegen Euro aus. Mit diesen in der Tasche gehen wir gemeinsam auf Nahrungssuche, was sich als nicht sonderlich schwer herausstellt, da bereits beim Verlassen des Waggons zwei Babuschkas (Großmütter, für die West- & Spätgeborenen) auf uns zustürmen, jeweils mit Beuteln und Taschen ausgestattet und uns auf feinstem Russisch Kost vom heimischen Herd feilbieten. Ich entscheide mich gegen die gekochten Bratwürste und für Frikadellchen mit Kartoffeln, Gurken und Brot, sowie Kartoffelpuffer mit (ich nehme an) Schmand. Das alles gibt es für nur 50.000 BelaRubel. Ein Euro sind wohl (lt. Wechselkurs im Zug) 6.700 BelaRubel, somit hat mich das ganze Essenspaket 7,5€ gekostet. Das ist okay, vor allem, weil die Kollegen aus dem Bordrestaurant auf mein Nachfragen für ihr „köstliches Menü“ 20€ veranschlagten, was Sascha dazu veranlasste, sein gesamtes Repertoire an deutschen Schimpfwörtern durch zu exerzieren, um mir seine Verbundenheit zu beweisen. Danke Sascha!

Nun  reise ich als Alleinherrscher über mein Micro-Königreich weiter gen Russland. Die ohnehin schon spärliche Besiedlung nimmt weiter ab und die tristen Städte werden ersetzt durch eine ausgedehnte Seenlandschaft, die mit einem traumhaften Sonnenuntergang gebührend gewürdigt wird. So fahre ich in die einbrechende Nacht, voller Erwartung auf den spannenden Grenzübertritt nach Russland. Dieser gestaltet sich jedoch völlig unspektakulär, da de facto nicht wahrnehmbar. Der einzige Hinweis, dass ich mich nun auf russischem Territorium befinde, ist die Anzeige des Mobilfunknetzes auf meinem Handy. That’s it…

Es bleibt mir noch, die belarussischen Kartoffelpuffer genüsslich zu verspeisen, bevor ich zu Bett gehe, um pünktlich bei Ankunft in St. Petersburg (Vitebski Bahnhof) wieder zu erwachen. Nun aber schnell die Sachen gepackt, den Schlaf aus den Augen gewischt und das Gepäck geschultert. Auf geht’s in die Zarenstadt…..

About Steffen

Born in 1980 in good old Magdeburg in the GDR (German Democratic Republic). Stayed there for a while, than went to Cuba for a few months. Afterwards finished my studies of business and computer science and started to work in a big consultant enterprise. Quit this job for obvious reasons. Due to the lack of goodwill at the ZVS I started to work as a freelancer in the sector of SAP consulting in Cologne. Planned to do this only for a few months, now nearly passed by two years. Well, time to move on...
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2 Responses to 1. Etappe Berlin – St. Petersburg

  1. Lars says:

    Hach Steffen,

    bin ja jetzt schon neidisch und wie immer freudig angetan von dir zu lesen 🙂

    Dein Daheimgebliebener

  2. Tülin says:

    Super spritzig und erfrischend bei diesen Temperaturen von Dir zu lesen. Freue mich auf mehr…

    LG Tülin;)

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